Das Dorf der Freundschaft ist ein internationales Versöhnungsprojekt. Es wurde durch den ehemaligen US-Soldaten George Mizo initiiert. Es bietet Menschen, die unter den Spätfolgen des Vietnamkrieges leiden – geistig und körperlich behinderten Kindern und Jugendlichen sowie Älteren – Hilfe und Unterstützung.

Enkel des schmutzigen Krieges

Alle Fotos: Philippe Eranian / Corbis Sygma

 

 



Kleine Freuden
Tu-Du-Hospital in Ho-Chi-Minh-Stadt, dem früheren Saigon: Ein Kind ohne Arme, die Beine verkrüppelt, spielt mit einer Krankenschwester


"Millionen Liter des Dioxin-haltigen Entlaubungsgiftes "Agent Orange" versprühten die Amerikaner im Vietnamkrieg. Noch heute werden deshalb Tausende missgebildeter Kinder geboren. Doch der Weltpolizist USA drückt sich vor der Verantwortung:
Entschädigung gibt es nicht"

 


 


Makabere Sammlung
Seit 1976 bewahren die Ärzte des Tu-Du-Hospitals tot geborene missgebildete Kinder in Gläsern mit Formaldehyd zu Studienzwecken auf

 


 


Eine halbe Stunde Sonne
Waisenhaus eines Nonnenordens in Ho-Chi-Minh-Stadt. Einmal täglich dürfen die gelähmten Kinder im Freien liegen

 


 


Zuwendung
Die Stunde des Badens ist für die Kinder des Waisenhauses "Mam Nom" eine der wenigen Gelegenheiten zum Körper- und Blickkontakt mit den Schwestern


Von Tilmann Müller und Philippe Eranian (Fotos)

Hoffnung Oanh, 15, bei einer Untersuchung ihrer Verwachsungen im Nackenbereich. Inzwischen wurde sie operiert.

Oanh fängt plötzlich an zu lächeln, scheu und unsicher. Noch kann sie nicht richtig begreifen, dass es trotz des lähmenden Gifts, das in ihr steckt, in letzter Zeit aufwärts geht. Noch kann sie kaum glauben, dass sie heute, am 110. Geburtstag des vietnamesischen Übervaters Ho Chi Minh, sogar eine Auszeichnung bekommt.
"Enkelin von Onkel Ho" lautet der Ehrentitel, den das dioxinkranke Mädchen an diesem Tag in Van Canh, einem kleinen Ort nahe der Hauptstadt Hanoi, für seine guten schulischen Leistungen zugesprochen bekommt. In der 29-köpfigen Klasse erhalten diese Belobigung nur zwei weitere Schüler - "normale Kinder", wie Oanh sagt. Zur Gratulation hat sie sich extra hübsch gemacht. Trägt einen langen roten Schal über der frisch gebügelten rosa Bluse, dazu silberne Ohrringe und eine dunkelblaue Schirmmütze, an die sie mit Tesafilm briefmarkengroße Bildchen chinesischer Filmstars geklebt hat.
Oanh ist 15 Jahre alt, in ihrer gesamten Entwicklung jedoch in vielem höchstens auf der Stufe einer Elf- bis Zwölfjährigen. Sie ist in der 5. Klasse und nur 1,38 Meter groß, kann mit ihrer piepsigen Stimme lediglich unter großer Anstrengung sprechen, hat Beine wie eine Achtjährige und einen Oberkörper wie eine erwachsene Frau.
Bis vor kurzem war alles noch viel schlimmer. Da plagte Oanh eine gespenstische Missbildung der Muskeln im Hals-Nacken-Bereich. Ihr Kopf war seit der Geburt wie in Beton eingemauert und ließ sich nicht bewegen. "Wenn ich nach links oder rechts schauen wollte, musste ich immer den ganzen Körper drehen", erklärt das geistig völlig intakte Mädchen. Kein Schal oder Rollkragen-Pulli konnte "die hässlichen, steinharten Dinger da oben" verdecken.
Mit Grauen denkt Oanh an ihre frühe Kindheit. An die ständigen Halsschmerzen und Herzprobleme, die inzwischen mit Hilfe von Medikamenten ausgeschaltet sind. An die bedrückenden Berichte der Eltern über den Befreiungskampf, über das Leben in den engen Tunneln während des "amerikanischen Kriegs". Nichts habe es damals zu essen gegeben. Keinen Reis, kein Salz. Nur Maniokwurzeln und manchmal etwas Fisch. Mama und Papa hätten auch oft erzählt, dass aus den amerikanischen Flugzeugen "milchige Regenschwaden" heruntergekommen und danach überall im Dschungel die Blätter von den Bäumen gefallen seien.


Zurückgeblieben Hoa ist schon 13, aber noch so klein wie ein Sechsjähriger. Seine Freunde unterhält er gern mit Faxen.

Dass der Sprühregen das dioxinhaltige Entlaubungsmittel "Agent Orange" (von den GIs benannt nach den orangefarbenen Markierungen auf den Herbizidfässern) enthielt, dass diese hochgiftige Chemikalie krebserregend ist, Geburtsschäden verursacht und sich in Lebensmitteln festsetzt - all dies konnten Oanhs Eltern nicht wissen. Als die fremden Soldaten 1975 endlich abzogen, ahnten die Eltern nicht, dass das Pestizid in ihre Körper gewandert war, vermutlich über verseuchte Fische und Maniokwurzeln oder das Trinkwasser. Über eine Million Menschen, so die Regierung in Hanoi, erkrankten durch das Dioxin-Bombardement. 44 Millionen Liter "Agent Orange" versprühte die US-Armee zehn Jahre lang, hauptsächlich über Mittel- und Südvietnam, und zerstörte dabei 3,5 Millionen Hektar Wald und Land.
Oanh wuchs in der zentralen Provinz Quang Tri auf; nahe dem 17. Breitengrad. Ein Gebiet, das einst erbittert umkämpft war und in dem die katastrophalen Folgeschäden des chemischen Krieges erst in den letzten Jahren in vollem Umfang offenbar wurden. Untersuchungen des amerikanischen Umweltexperten Arnold Schecter ergaben, dass die Dioxin-Belastung in dieser Region an manchen Stellen über 100 MaI höher ist als etwa im Norden des Landes, wo es keine "Agent Orange"-Abwürfe gab. Vietnamesische Forscher stellten fest, dass in der starkverseuchten Provinz besonders viele Totgeburten zu beklagen sind; 69 von 10000 Babys kommen dort ohne Gehirn auf die Welt - in anderen Landesteilen ist dies im Schnitt nur bei zehn Säuglingen der Fall.
"Meine Eltern sind beide schwer krank, seit ich denken kann", sagt Oanh, "aber am schlimmsten hat es meine ältere Schwester Quy getroffen." Hilflos habe die Familie miterleben müssen, wie die als Krüppel geborene Quy Monat um Monat schwächer wurde, bis sie vor fünf Jahren gestorben sei, unter schrecklichen Qualen.
Nervös verknotet Oanh ihre Finger ineinander, als sie vom Schicksal ihrer Schwester spricht. Oanh weiß, dass mit ihr womöglich das Gleiche passiert wäre, wenn es nicht vor gut einem Jahr eine Wende in ihrem Leben gegeben hätte. Wenn nicht ein Jeep der vietnamesischen Kriegsveteranenvereinigung (VAVN) sie zu Hause in Quang Tri abgeholt und ins 600 Kilometer entfernte "Dorf der Freundschaft" in Van Canh bei Hanoi gebracht hätte.


Augenblicke des Glücks Verkrüppelte Kinder im Tu-Du-Hospital. Dem Jungen, den die Schwester auf dem Schoß hält, fehlen seit der Geburt Gesäß und Beine.


DIOXIN-GESCHÄDIGTE Kinder und Veteranen aus allen Regionen des Landes werden dort seit 1998 in acht pagodenartigen Häusern betreut. Das Projekt entstand ausgerechnet auf Initiative eines Amerikaners, der einst als Sergeant einer Artillerieeinheit gegen den Vietcong gekämpft hatte. Er heißt George Mizo. Im Januar 1968 wurde der heute 54-Jährige nach einer schweren Verwundung im Queson-Tal in die USA ausgeflogen und bekam 1974 plötzlich schwere Hautausschläge und Fieberanfälle - der Beginn eines bis heute andauernden Leidens, verursacht von "Agent Orange".
Schon 140 Mal kam Mizo deshalb in die Klinik, zweimal lag er auf dem Operationstisch. Dennoch fand er die Kraft, praktische Versöhnungsarbeit zu leisten. In den 90er Jahren trommelte der Ex-Soldat bei Veteranenorganisationen in aller Welt Geld für das "Dorf der Freundschaft" zusammen. Das moderne Therapiezentrum hilft vor allem Dioxin-Kranken, die in ihren Heimatorten keinerlei Behandlungsmöglichkeit haben. "Gerade in der Provinz wird noch vieles vertuscht" sagt Nguyen Hung, der Direktor des "Dorfes der Freundschaft", "die Väter fürchten, selbst gesunde Töchter nicht verheiraten zu können, wenn jemand in der Familie Dioxin-vergiftet ist." Oft, so der Direktor, fehle es auf dem Land aber einfach nur an medizinischem Fachpersonal.
Auch Oanh wurde zu Hause nicht adäquat betreut. "Als sie hier ankam, war ihr Immunsystem sehr geschwächt, und es fehlte jeder innere Antrieb", sagt Lun Tri, der Arzt des Dorfes. Ihre Besserung, herbeigeführt durch gezielte medikamentöse Behandlung und ein spezielles Gynmastikprogramrn, habe Monate gedauert. Danach kam die Operation in einer Spezialklinik für plastische Chirurgie in Hanoi. "Es hat furchtbar wehgetan", sagt Oanh und zeigt auf die beiden etwa 15 Zentimeter langen Narben links und rechts ihres Halsansatzes. Und dann dreht und wendet sie ihren Kopf in alle Richtungen und will nicht aufhören, sich zu freuen.
70 Kinder, die meisten verkrüppelt oder geistesgestört, sind derzeit im "Dorf der Freundschaft" Oanh wohnt in einem hellen Zimmer, zusammen mit zwei anderen Mädchen. An den Wänden hängen Buntstiftzeichnungen, auf denen hübsche Frauen mit europäisch anmutenden Gesichtern zu sehen sind, manche von ihnen mit Babys im Arm. Oanh ist stolz auf die Bilder, die sie nach Fotovorlagen von Filmschönheiten mit feinem Strich gezeichnet hat. Später, sagt sie, würde sie am liebsten einmal Kunst studieren. In diesem Moment kommt Oanhs Freundin Luu durch die Tür, eine 15-Jährige mit stark hervorquellenden Augen, einer platten Nase und schiefem Mund. Ihr fehlt ein Ohr, sie kann hören und sprechen, doch in die Schule nach Van Canh traut sie sich nicht.


"Luu schämt sich wegen der Missbildungen und geht nirgendwohin", sagt Oanh später, "ich lerne mit ihr jeden Tag nach der Schule in meinem Zimmer und lese mit ihr Zeitungen!" Oanh weiß, dass ihre eigenen Deformationen vergleichsweise harmlos sind. Dass es Tausenden von Kindern noch weit schlechter geht als Luu. "Manche", schrieb der Journalist Minh Chuyen nach einer langen Reise zu den Dioxin-Opfern in den Dörfern des Südens, "haben fast keinen Kopf oder ein Auge im Nacken, den Mund auf den Schultern oder die Haupthaare auf dem Bauch. Sie weinen ihr ganzes Leben und kennen das Lächeln nicht!" Einmal, so Minh Chuyen, habe er einen 16-Jährigen gesehen, der in der Küche seiner Eltern dahinsiechte, nackt in einem Bambuskäfig.
In Vietnam gibt es nach Angaben der VAVN Insgesamt 70000 Kinder, die unter den Spätfolgen von "Agent Orange" leiden. Die meisten sind Kriegskinder wie Oanh, gehören der zweiten Opfer-Generation an. Doch inzwischen ist bereits die Enkelgeneration infiziert. Dioxin-verkrüppelte Babys werden in Vietnam, einem der ärmsten Länder der Welt, häufig einfach ausgesetzt und landen in Waisenhäusern. Im "Mam Nom"-Heim von Ho-Chi-Minh-Stadt, dem früheren Saigon, sind ganze Säle mit solch todgeweihten Kleinkindern gefüllt. Manche haben ballonartige Wasserköpfe, die größer sind als ihr gesamter Körper.
"Der Krieg geht weiter im Blut unserer Kinder", sagt General Vu Vinh, 77. Einst kommandierte er in Hanoi die Vietcong-Flugabwehr gegen die amerikanischen B-52-Bomber, heute kämpft der hoch dekorierte Veteran wortreich um Wiedergutmachung für das "Agent Orange"-Fiasko. Sein armes Land benötigt dringend finanzielle Hilfe für die Dioxin-Opfer, möchte indes, um die erst vor kurzem wieder aufgenommenen Handelsbeziehungen nicht aufs Spiel zu setzen, jede direkte Konfrontation mit den USA vermeiden. Niemand in der sozialistischen Republik will außerdem an die große Glocke hängen, dass Vietnam das am stärksten mit Dioxin verseuchte Land der Welt ist - denn das schadet dem lukrativen Export von Reis und Garnelen, dem Rückgrat der heimischen Wirtschaft.
Noch nie, schimpft der General, habe Pete Peterson, der US-Botschafter in Hanoi, einem Mädchen wie Oanh die Hand gedrückt, geschweige denn eine Spende geschickt. In der Tat verhält sich die in Sachen Menschenrechte und Umweltpolitik sonst so rührige US-Regierung äußerst bockbeinig, wenn es um die Bereinigung der Öko-Katastrophe geht, die ihre Vorgänger angerichtet haben. Man fürchtet Milliardenklagen in mehrstelliger Höhe. Jeder Forderung der Vietnamesen begegnen US-Behörden mit dem Hinweis, die Dioxin-Belastungen müssten zuerst bewiesen werden. Doch weltweit gibt es nur wenige Labors, die in der Lage sind, Dioxin-Tests fachgerecht auszuführen – in Vietnam kein einziges. Zudem sind die Untersuchungen sehr kostspielig: Jede einzelne Boden- oder Gewebeprobe kostet mindestens 1000 Mark - ein Kriegsveteran wie Oanhs Vater muss mit 20 Mark Pension im Monat auskommen.
Wie alarmierend die toxischen Belastungen sind, beweisen jüngste Studien der kanadischen Firma Hatfield. Die Forscher stießen im Aluoi-Tal unweit des 17. Breitengrads auf dermaßen hohe Werte, dass sie zunächst ihren Messgeräten misstrauten. Doch dann stellten sie fest, dass sich am untersuchten Ort einst eine US-Base befunden hatte. Hatfield-Mann David Levy: "Die GIs haben hier vor ihrer Flucht ganze Fässer mit "Agent Orange" weggekippt!" Es beunruhige ihn, dass dies wohl nicht nur im Aluoi-Tal so gehandhabt worden sei, sondern in "Hunderten von Basen quer durch Südvietnam".
Vietnam ist immer noch ein Land der Apokalypse, für Oanh auf jeden Fall. Es ist zwar eher unwahrscheinlich, aber vielleicht schafft sie es ja, ihren Traum zu verwirklichen und Kunst zu studieren. Wünscht sie sich dann auch Kinder? "Daran habe ich noch nie gedacht", sagt sie und fügt nach langer Überlegung hinzu: "Davor habe ich eine Riesenangst."


Leid für Freund und Feind

 

Grausame Fracht Zwei US-Bomber beim Versprühen von Herbiziden über dem Dschungel Vietnams

"Agent Orange" machte auch viele frühere GIs krank. 20000 von ihnen bekamen eine Entschädigung - einer bemüht sich nun um Hilfe für die Kinder in Vietnam
Am Anfang war sie streng geheim, die Operation "Ranch Hand": Zwischen 1961 und 1971 versprühten US-Flugzeuge mehr als 72 Millionen Liter Herbizide über den dichten Dschungel. um die Aufmarschgebiete des Vietcong besser einsehen zu können. 44 Millionen Liter davon waren das Dioxin-haltige Entlaubungsgift "Agent Orange", das inzwischen von der amerikanischen Umweltbehörde als krebsauslösende Substanz eingestuft wird. Der Dioxin-Befall verwandelte ganze Regionen des Landes bis heute in Mondlandschaften. Mindestens eine Million Menschen erlitten schwere Gesundheitsschäden, Tausende erlitten grauenhafte Missbildungen oder starben. Auch viele amerikanische Soldaten, die während ihres Vietnameinsatzes mit dem Gift in Berührung gekommen waren, ereilte das gleiche Schicksal. In den 80er Jahren verklagte eine Gruppe von 20000 US-Veteranen die Produzenten Dow Chemical und Monsanto und erhielt eine Entschädigungssumme in Höhe von insgesamt 180 Millionen Dollar zugesprochen. George Mizo, selbst "Agent Orange"-geschädigter US-Veteran, setzt seit den 90er Jahren alles daran, dass auch Vietnams Dioxin-Opfer Hilfe erhalten - im "Dorf der Freundschaft", das auf seine Initiative 1998 nahe Hanoi gegründet wurde. "Das Dorf ist erst zur Hälfte fertig, die Kinder dort brauchen dringend Unterstützung", sagt Mizo, der heute in Deutschland lebt.