Das Dorf der Freundschaft ist ein internationales Versöhnungsprojekt. Es wurde durch den ehemaligen US-Soldaten George Mizo initiiert. Es bietet Menschen, die unter den Spätfolgen des Vietnamkrieges leiden – geistig und körperlich behinderten Kindern und Jugendlichen sowie Älteren – Hilfe und Unterstützung.

Die Erben von Agent Orange

Text: Alexandra Rigos; Photos: Christoph Gödan






"Das Entlaubungsmittel führte in Vietnam bisher zur Geburt von 100.000 behinderten Kindern. Gemeinsam versuchen Veteranen beider Kriegsparteien den Opfern zu helfen"




Fünfmal wurde Ngo Van Nang während des Vietnamkriegs mit Agent Orange besprüht


Ex-Staatschef Ho Chi Minh ziert den Empfangsraum im Dorf der Freundschaft






Erst auf den zweiten Blick offenbaren sich die Behinderungen der Kinder.



Direktor Hung hat fünf Kinder. Sie sind erwachsen und erfolgreich. Ein Sohn lebt in Moskau, eine Tochter hat in Tschechien studiert, und die Jüngste ist im Arbeitsministerium beschäftigt, wie einst der Vater.
Frau Lien hat ebenfalls fünf Kinder. Eigentlich wären es sechs, aber das zweite starb sofort nach der Geburt. Es hatte einen übergroßen Kopf und viel zu kleine Arme und Beine. Frau Liens ältestes Kind lernte erst mit sieben laufen und sprechen.
George Mizo hat einen Sohn. Er ist elf Jahre alt und gesund. Ein zweites Mal hätten sie das Schicksal nicht herausfordern wollen sagt Frau Mizo.
Herr Nang ist kinderlos. Nachdem seine Frau zwei missgebildete Babys zur Welt brachte ("Monster" sagt der Dolmetscher), gab das Paar auf.

Oanh ist mit ihren 14 Jahren selbst noch ein Kind. Selber welche haben wird sie wohl nie. Welcher Vietnamese würde Oanh heiraten, mit ihren verhärteten Halsmuskeln, dem Herzfehler und den verkümmerten Händen? Oanh, die so mühsam spricht, dass man sie kaum versteht?
Immerhin kann sie jetzt besser nach links und rechts schauen, nachdem man ihr im Herbst die dicken Muskelstränge wegoperiert hat, die wie eine Halskrause ihren Kopf steif hielten. Und sie geht zur Schule. Morgens, nach ihren Krankengymnastik-Übungen, von halb sieben bis halb elf. Dann noch ein mal drei Stunden am Nachmittag. Abends lernt sie freiwillig weiter. Oanh darf sich am "Wettbewerb hervorragender Schüler" beteiligen, in den Fächern Mathematik und Vietnamesisch.
Das verdankt sie Direktor Hung, der sie in das "Dorf der Freundschaft" aufgenommen hat, und nicht zuletzt George Mizo. Im Vietnamkrieg haben die beiden Männer gegeneinander gekämpft, heute versuchen sie gemeinsam Kriegsopfern zu helfen. Nguyen Khai Hung leitet das Dorf der Freundschaft, ein Reha-Zentrum bei Hanoi, George Mizo hat sich das Projekt ausgedacht und es vorangetrieben: Acht hell getünchte Häuser, zwischen denen sich Wäscheleinen spannen. Eine Krankenstation, ein Spielplatz, ein Garten. Seit April letzten Jahres lebt Oanh hier, eines von insgesamt 70 Veteranenkindern im Alter von sieben bis 18 Jahren, sie alle körperlich oder geistig behindert. Oder beides. Zwei Häuser weiter wohnen Frau Lien und Herr Nang. Sie gehören zu den 30 ehemaligen Soldaten, die derzeit im Dorf ärztlich betreut werden. Die Veteranen plagen sich mit anderen Krankheiten als die Kinder, doch ihre Leiden haben dieselbe Ursache. Sie heißt Agent Orange.


Aus Liebe meldete sich Nguyen Thi Lien in den Krieg.





Trotz seiner Behinderung ist Thang privilegiert. Rollstühle sind in Vietnam Mangelware.


Die sprechbehinderte Oanh zeichnet gern. Ihre Bilder zeigen immer strahlende junge Frauen.

72 Millionen Liter überwiegend dioxinhaltige Entlaubungsmittel haben die Amerikaner während des Vietnamkriegs versprüht. (Klicken Sie hier für weitere Infos!) Eine Million Menschen haben die Herbizide krank gemacht, schätzt Professor Hoang Dinh Cau; er leitet ein wissenschaftliches Komitee, das die Folgen der Entlaubungsaktionen untersuchen soll. 100000 Kinder seien behindert zur Welt gekommen. Und das Gift hat noch nicht aufgehört zu wirken. Was wird sein, wenn Oanhs zwei gesunde, ältere Schwestern Kinder bekommen?
Der Professor breitet einen Stoß Stammbäume aus. Weiße Kästchen stehen für gesunde Kinder, schwarze für missgebildete, Kreuze für Totgeburten. Vier oder fünf schwarze Kästchen in einer Reihe sind keine Seltenheit. Manche Stammbäume bestehen aus weißen Zeichen, erst in der untersten Reihe tauchen schwarze Kästchen auf. Es sind die Enkel, Kinder von Eltern, die selbst nie mit Agent Orange in Berührung gekommen sind. Die Angehörigen der Nachkriegsgeneration kommen jetzt in das Alter, eine Familie zu gründen. "Wir können noch keine Prognose abgeben", sagt Professor Cau, "aber möglicherweise steht eine weitere Welle von Missbildungen bevor"
Hilfe gibt es für die betroffenen Familien kaum. Vietnam hat kein Geld. Neben dem Dorf der Freundschaft, das dem vietnamesischen Veteranenverband untersteht, existieren sechs ähnliche Einrichtungen der Organisation "Friedensdorf International". Zusammen bieten diese Reha-Dörfer Platz für wenige Hundert Kinder. wenige Hundert von Hunderttausend. "Wir nehmen nur leichtere Fälle auf", sagt Direktor Hung, "Kinder, bei denen wir etwas ausrichten können."
Leichtere Fälle wie die l7-jährige Hai, die aussieht wie zwölf. Als sie neu im Dorf war, riss sie sich immer wieder die Kleider vom Leib und die Haare aus, bis die Kopfhaut blutete. Inzwischen hat sie Zutrauen gefasst. Streichelt Besuchern mit kindlichem Lächeln über den Arm. Oder Dat, 6 Jahre alt, mit Füßen, die verdreht im Gelenk angewachsen scheinen: Phokomelie nennen Mediziner diese Missbildung, Seehund-Füße. Oder Luu, die 15-Jährige mit den verrutschten Gesichtszügen. Direktor Hung nimmt ihr Haar beiseite. Wo das Ohr sein sollte, wächst bloß ein Hautfetzen, an dem ein Ohrring hängt. "Sie hört kaum etwas", sagt Hung.
Zu jedem Kind hat der Direktor die Familiengeschichte parat und Zahlen: Was es wog, als es in das Dorf kam, und wie viel es seither zugelegt hat. Bei ihrer Ankunft sind fast alle Kinder unterernährt. Hung weist auf den neuen Fischteich hin und die Büschel junger Bananen im Garten. Das Dorf ist gehalten, sich so weit wie möglich selbst zu versorgen. Im Kräuterbeet zupft Hung ein paar Blätter ab. "Süßkraut", sagt er, "ein Stärkungsmittel. hilft auch gegen Diabetes." Neben westlichen Medikamenten wenden die beiden Ärzte des Dorfes traditionelle asiatische Medizin und Akupunktur an.


Selbst vom Krieg gezeichnet, setzt sich Ex-Sergeant George Mizo für die Opfer in Vietnam ein.

Besucher empfängt Direktor Hung unter dem Bild Ho Chi Minhs. Milde lächelt Onkel Ho, der selbst nie Kinder hatte, und hält ein kleines Mädchen im Arm. Über ihm hängt die vietnamesische Flagge. "Seit mehr als 50 Jahren bin ich ein Mann der Revolution", sagt Hung. Seine militärische Laufbahn begann mit zwölf, als Botenjunge. Später brachte er es bis zum Major, in 30 Jahren Krieg gegen Franzosen, Amerikaner, die südvietnamesische Armee. Es folgte eine Karriere als Kader: in der Partei, wo er einem Komitee angehörte, das die Gesinnungstreue der Mitglieder zu prüfen hatte, im Arbeitsministerium, im Veteranenverband. Seit Gründung des Freundschaftsdorfs im Jahr 1997 ist der heute 65-Jährige dort Direktor. "Ich habe im Krieg mehr Glück gehabt als andere", sagt er "diesen anderen möchte ich jetzt helfen."
George Mizo war der erste Amerikaner, dem Hung nach dem Krieg begegnete. Der ehemalige Sergeant gehörte einem amerikanischen Veteranenverband an und hatte die Idee, ein Dorf für Kriegswaisen zu gründen. Die vietnamesische Regierung stellte ein Stück Land bereit, den Rest finanzierten Veteranenverbände aus den Ländern, die einst in Vietnam Krieg geführt haben: Japan, Frankreich, Amerika. Wie es war, mit den ehemaligen Feinden zusammenzuarbeiten? Kein großes Problem, sagt Hung: "Die amerikanischen Soldaten waren ja selbst Opfer." Nicht einmal mit den Franzosen habe er sich schwer getan, sagt er, obwohl die ihm seinerzeit Vater und Schwiegervater verschleppt haben und die Familie bis heute ohne Nachricht von ihnen blieb.
"Die ersten Begegnungen waren schwierig", sagt hingegen George Mizo. Er gehört zu denen, die weniger Glück im Krieg hatten als Direktor Nung. "Theoretisch betrachtet", sagt Mizo, "bin ich zu 300 Prozent schwer behindert." 100 Prozent wegen seiner Herzkrankheit. Weitere 100 Prozent wegen seiner Kriegsverletzung und dem Posttraumatischen Stress-Syndrom. Noch einmal 100 Prozent, weil Agent Orange sein lmmunsystem ruiniert hat.
Mizo hatte sich freiwillig nach Vietnam gemeldet, die mitreißenden Reden John F. Kennedys im Hinterkopf: " Frag nicht, was dein Vaterland für dich tun kann." Wie viele glaubte der damals 21-Jährige, den unterdrückten Vietnamesen zur Hilfe zu kommen, und fand sich schließlich auf Schlachtfeldern wieder, wo er Leichen in schwarzen Vietcong-Pyjamas zählte, Leichen, deren Gesichter er aus den Dörfern der Umgebung kannte. Es waren die Dörfer, die er vor der Guerilla schützen sollte. "Mir ging es bald nur noch darum, meine Männer lebend da durchzubringen", sagt Mizo. Sein Trupp gehörte zur schweren Artillerie und stieß nach Norden vor, häufig in Gebiete, deren Pflanzenwuchs mit Agent Orange zerstört worden war. Ende Januar 1968 wurde Mizo bei Que Son von den Trümmern einer chinesischen Rakete getroffen und nach 13 Monaten Vietnam schwer verletzt ausgeflogen. Kurz danach brach die Tet-Offensive los. Alle seine Männer kamen um.
Auch später hatte George Mizo weniger Glück als sein einstiger Feind und heutiger Partner Nguyen Khai Hung. Kaum genesen, organisierte Mizo eine Protestkundgebung auf einer Militärbasis und saß fast zwei Jahre lang im Gefängnis. Wurde unehrenhaft aus der Armee entlassen. Verbrachte eine Weile in einem französischen Kloster. Versuchte zu vergessen. Schließlich wurde er Vizepräsident der Organisation "Veteranen für den Frieden" und strengte mit anderen Agent-Orange-Opfern eine Klage gegen die Chemiekonzerne an, die das Herbizid produziert hatten. Der Rechtsstreit endete 1984 mit einem außergerichtlichen Vergleich: Die sieben Hersteller, unter denen Dow Chemical und Monsanto die Hauptlieferanten waren, kauften sich mit 180 Millionen Dollar frei. Ihre Bedingung war, die Akten für alle Zeiten zu schließen. Mizo erhielt 5000 Dollar Entschädigung.



Heute lebt Mizo in der Nähe von Stuttgart, seine deutsche Frau hat er auf einem Friedensmarsch im Wendland kennen gelernt. Nachts durchschlafen kann er noch immer nicht. Was ihm an Energie bleibt, steckt er in sein Projekt, das Dorf der Freundschaft. Schon als er damals ausgeflogen wurde, sagt Mizo, habe er gewusst, dass er nach Vietnam zur�ckkehren w�rde, irgendwann, irgendwie.
Einige Jahre, nachdem George Mizo in der stark mit Agent Orange besprühten Militärregion I verwundet wurde, hat auch Nguyen Thi Lien dort gekämpft. Freiwillig war sie mit 18 in den Krieg gezogen. "Mein Liebster hatte sich zur Armee gemeldet", sagt sie, "also habe ich es auch getan." Von Agent Orange wusste Frau Lien damals nichts, erst viel später sollte sie davon erfahren, aus dem Fernsehen. 1981 brachte sie ihr erstes Kind zur Welt, den Sohn, der erst mit sieben laufen und sprechen lernte. 1983 kam das deformierte Baby, das nicht am Leben blieb. Du musst einen Liebhaber bei der Armee gehabt haben, sagte die Schwiegermutter, warum sonst sollten die Götter uns so strafen?
Frau Lien und ihr Mann waren entschlossen, die Gerüchte im Dorf zum Schweigen zu bringen. Zu ihrer Ermutigung schien das dritte Kind einigermaßen gesund: "Wäre es auch missgebildet gewesen, hätten wir Gift genommen."
Sie gebar noch zwei Söhne und eine Tochter, die normal aussehen, aber kränkeln. Sehr blass sind die Kinder und leiden ständig unter Kopfschmerzen, wie ihre Mutter. Sie sei sehr stolz, dass sie sich im Dorf der Freundschaft erholen dürfe, sagt Frau Lien. Nicht nur weil sie die einzige Frau unter den Veteranen dort ist. Sondern, weil sie nun die Bestätigung hat, dass mit ihrem Körper etwas nicht stimmt. Und dass es nicht ihre Schuld ist.
Anders als Frau Lien, die nicht weiß, wann sie oder ihr Mann mit dem Herbizid in Berührung gekommen sind, kann sich Ngo Van Nang gut an die Entlaubungsaktionen erinnern. Fünfmal ist er besprüht worden. Wie Tausende von Nadelstichen habe sich das Pflanzengift auf der Haut angefühlt, sagt er, nachher seien sie alle ganz benommen gewesen. Die Bäume starben binnen weniger Stunden, geweint hätten sie bei diesem Anblick. Es tut Herrn Nang gut, von seinen Kriegserlebnissen zu erzählen. Die Augen in dem eingefallenen Gesicht glänzen. Einmal wurde er bei einem Bombenangriff in einem Vietcong-Tunnel verschüttet und erstickte beinahe. Eine schwierige Zeit, sagt er, aber was danach kam, sei schlimmer gewesen. Danach kamen die beiden Totgeburten und ein Leben ohne Kinder, ein grosses Missgeschick im familienorientierten Vietnam. Auch die eitrigen Ausschläge kamen danach, die Kopfschmerzen und die Schwäche, die es ihm unmöglich machte, das Gemüse, das er pflanzte, auf den Markt zu tragen. "Ich bin ausgetrocknet, wie Dörrobst", sagt Herr Nang. Die Ärzte geben ihm Spritzen.
Nach drei Monaten muss er heimkehren, und auch Frau Lien muss zurück in ihr Fischerdorf zu ihren kranken Kindern. Der Platz im Dorf der Freundschaft ist begrenzt, und das Privileg eines Aufenthalts dort soll möglichst vielen Kranken zuteil werden. Auch die Kinder dürfen nur zwei bis drei Jahre bleiben. "Ich wage nicht, an die Zukunft zu denken", sagt Oanh. Welchen Beruf sie, die ausgezeichnete Schülerin, lernen möchte? "Für mich hat es keinen Sinn zu träumen", antwortet sie fast heftig und versucht, in einem unbeobachteten Moment die Tränen wegzuwischen.
Wenn Oanh nicht lernt, zeichnet sie. Ihre Bleistiftskizzen hängen in dem Zimmer, das sie mit zwei anderen Mädchen teilt. Sonst gibt es wenig Persönliches in den Zimmern, die nüchtern ausgestattet sind mit Stahlrohrbetten und Kachelfussböden. Oanhs Zeichnungen zeigen allesamt junge, strahlende Frauen mit langem Haar. Oanh strahlt jetzt auch, weil der Fotograf kommt und Bilder macht von ihr und ihren Werken. Die anderen Mädchen knuffen sie in die Seite. Oanh strahlt noch mehr.
Direktor Hung hofft, dass er der begabten Oanh zu einem Stipendium verhelfen kann. Was aus den anderen Kindern werden soll? Nur ein Teil von ihnen wird je in der Lage sein. Für sich selbst zu sorgen. Zwei Kinder besuchen seit kurzem eine Textilfachschule. Eigentlich hätte das Freundschaftsdorf eigene Lehrwerkstätten bekommen sollen. Sie sind nie gebaut worden, auch nicht das Gemeindehaus und die weiteren Wohngebäude, die ursprünglich geplant waren. Das Geld hat nicht gereicht. Auf dem brachliegenden Teil des Grundstücks will Direktor Hung nun 500 Obstbäume pflanzen.